Artikelübersicht

Psychotherapie - Teil 1: Die großen Ansätze
Psychotherapie - Teil 2: Wieso Verhaltenstherapie first?
Psychotherapie - Teil 3: Probleme statt Symptome behandeln
Psychotherapie - Teil 4: Auf dem Weg zum "B neu"
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Psychotherapie - Teil 1: Die großen Ansätze

Die Online-Enzyklopädie Wikipedia verzeichnet über 170 psychotherapeutische Methoden und Verfahren, von Akzeptanz- und Commitment Therapie bis Zootherapie sehen sich die potenziellen Klienten genauso wie angehende Psychotherapeuten einer verwirrenden Vielfalt gegenüber. Während für die, die psychotherapeutische Hilfe suchen, oftmals die Kostenübernahme durch Krankenkassen und die Verfügbarkeit von Therapeuten in der Umgebung ausschlaggebend ist, möchten sich angehende Therapeuten nach möglichst sachlichen Kriterien für eine therapeutische Methodenrichtung entscheiden. Insbesondere Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker, die die psychotherapeutische Heilerlaubnis erwerben wollen oder bereits erhalten haben, stehen häufig vor der Situation, sich psychotherapeutische Kompetenzen aneignen zu wollen, ohne einen wirklichen Überblick über die Optionen zu besitzen und Kriterien für die Suche und Auswahl zu kennen. Die Prüfung, die psychotherapeutische Heilpraktiker abgelegt haben, bezieht sich weitestgehend auf die Symptomstruktur der ICD 10 sowie rechtliche Fragen. Einen Nachweis über psychotherapeutische Kompetenzen und Erfahrungen müssen sie nicht erbringen.

 

Was sie für die therapeutische Praxis durch die Prüfungsvorbereitung allenfalls gelernt haben, ist eine Ahnung davon, dass sich aus Symptombeschreibungen und differentialdiagnostischen Abgrenzungen so gut wie überhaupt keine psychotherapeutische Behandlungsrichtlinie ableiten lässt. Es gibt nahezu keinerlei symptomspezifisch zwingende psychotherapeutische Behandlungsmethode.

 

In meiner kleinen Artikelserie will ich eine Lösung für dieses Problem vorschlagen. Dieser Vorschlag hat zwar den einen oder anderen Vorzug, ist aber natürlich dennoch stark von meiner eigenen psychotherapeutischen Praxis und meinem „Geschmack“ beeinflusst.

 

Um eine erste Orientierung im Psychotherapie-Dschungel zu gewinnen, ist es sinnvoll, die drei großen Ansätze, die derzeit den Methodenkosmos beherrschen, zu unterscheiden:

  • die psychoanalytischen (und darauf basierenden tiefenpsychologischen) Verfahren
  • die verhaltenstherapeutischen Verfahren
  • die systemischen Therapiemethoden.


Die beiden ersten werden seit langem auch von Krankenkassen anerkannt und bezahlt, die systemische Therapie hat diese Anerkennung erst seit 2020.

 

Der psychoanalytische Ansatz basiert auf der Annahme, dass Störungen aus Grundkonflikten der Persönlichkeitsentwicklung entstehen und in der Therapie durch Regression und Wiedererleben neu und besser verarbeitet werden müssen. Die Triebtheorie Sigmund Freuds ist ein wesentlicher Bestandteil des Konzepts und die therapeutische Intention lässt sich mit dem berühmten Satz „Wo Es war, soll Ich werden“ verdichten. Psychoanalytische und tiefenpsychologisch ausgerichtete Verfahren erfordern meist eine Vielzahl von Sitzungen über einen langen Zeitraum. Die Krankenkassen übernehmen für die Psychoanalyse in der Beginnphase die Kosten für 160 Einzelstunden und in der Therapieverlängerung für 300 Einzelstunden. (Für tiefenpsychologische Psychotherapie 60 und 100 Stunden.) Psychoanalyse arbeitet mit dem „freien Assoziieren“ des Klienten und bearbeitet dementsprechend grundsätzlich ein sehr breites Spektrum von Verhaltens- und Problembereichen des Klienten.

 

Die Verhaltenstherapie geht davon aus, dass dysfunktionales Denken und Verhalten gelernt ist und die sich daraus ergebenden emotionalen Probleme und der Leidensdruck durch ein Umlernen verringert werden können. Emotionen werden im Verständnis der Verhaltenstherapie kognitiv bewertet und verstärkt, so dass die Therapie an diesen kognitiven Bedingungen für emotionalen Stress ansetzen kann. „Die Menschen werden nicht durch Dinge beunruhigt, sondern durch die Ansichten, die sie darüber haben“ ist eine konstitutive Annahme der Verhaltenstherapie. Verhaltenstherapeutische Behandlungen sind stärker auf bestimmte Problembereiche der Klienten fokussiert als die psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Verfahren und zielen auf eine schnellere Problemlösung ab. Die Krankenkassen finanzieren verhaltenstherapeutische Interventionen mit 60 plus 80 Therapiestunden. Viele Verhaltenstherapien sind jedoch kürzer und umfassen zwischen 30 und 50 Sitzungen.

 

Der systemische Ansatz umfasst eine vergleichsweise große Vielfalt einzelner Methoden. Die Klammer der systemischen Therapie liegt in der Prämisse, dass psychische Störungen aus der

Interaktion in der Familie und dem näheren sozialen Umfeld entstehen. Dementsprechend wird dieses Umfeld direkt oder indirekt einbezogen. Ausgeprägt ist die Ressourcenorientierung der systemischen Therapiemethoden, also die Orientierung auf die im Klienten selbst liegenden und aktivierbaren Lösungsstrategien. Im Extremfall induziert die Interaktion zwischen Klient und Therapeut in der systemischen Therapie eine Lösung, ohne dass das Problem oder eine Symptomdiagnose als solche zur Sprache kommen. Systemische Therapieformate sind häufig in der Familientherapie zu finden. Die Methode der Familienaufstellung ist charakteristisch für diesen Ansatz, der auch tendenziell mit weniger Therapiestunden als die anderen beiden großen Therapieansätze auskommt. Systemische Kurzzeittherapien gehen davon aus, dass bereits kleine Veränderungen im Verhalten des Klienten zu einer Wirkung führen, die bedeutsame Veränderungen im Verhalten der anderen im System Beteiligten bewirken. Ein solches System muss (und kann) nicht als Ganzes behandelt und verändert werden, es reicht aus, den richtigen Veränderungsimpuls zu setzen, damit das System in ein neues, gesünderes Gleichgewicht kommt.

 

  • Buchtipp: H.H. Stavemann, Im Gefühlsdschungel: Emotionale Krisen verstehen und bewältigen

Psychotherapie - Teil 2: Wieso Verhaltenstherapie first?

Auch Therapieschulen liegen im Wettbewerb miteinander, nicht nur wegen der wirtschaftlichen Konkurrenz um Anerkennung durch Kostenträger. Der Nachweis der tatsächlichen Wirksamkeit von Therapiemethoden ist schwierig, die empirische Studienlage reicht bei weitem für eine gesicherte Einschätzung nicht aus. In dieser Situation hat man sich gerne darauf verständigt, dass unabhängig von der therapeutischen Methode die Qualität der Therapeut-Klienten-Beziehung ein auschlaggebender Erfolgsfaktor sei. Mitte der 90er Jahre hat der Psychotherapieforscher Klaus Grawe diesem Faktor vier weitere hinzugefügt (Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, Motivationsklärung, Problembewältigung). 

 

Der angeblich berühmteste lebende Psychiater und Psychotherapeut weltweit, Otto F. Kernberg (*1928), nahm jüngst im Gespräch mit dem Psychiater Manfred Lütz zur Methodenfrage Stellung. Er sagte: „Verhaltenstherapie ist sehr direkt und praktisch und kann in relativ kurzer Zeit Verhaltensprobleme lösen… Wenn das beim ersten Verhaltenstherapeuten nicht klappt, würde ich es noch einmal bei einem anderen versuchen. Und erst wenn das auch nicht funktioniert, würde ich an eine psychoanalytische Behandlung denken.“ Wenn ein Psychoanalytiker, der dafür berühmt wurde, Diagnostik und psychoanalytisch orientierte Therapie schwerer Persönlichkeitsstörungen begründet zu haben, die davor als nicht behandelbar galten, dieses pragmatisch klingende Plädoyer für die Verhaltenstherapie hält, sollte wir uns die Verhaltenstherapie näher ansehen. Zumal nicht nur der therapeutische Aufwand bei der Verhaltenstherapie wesentlich niedriger ist als in er klassischen Psychoanalyse. Auch für angehende Therapeuten, zumal psychotherapeutische Heilpraktiker, ist der Aufwand, sich entsprechende Kompetenzen anzueignen, wesentlich niedriger. (Abgesehen davon, dass überhaupt nur Ärzte und Psychologen und teilweise auch Pädagogen überhaupt eine klassische psychoanalytische Therapiebefähigung erlangen können.)

 

Wenn wir von „der“ Verhaltenstherapie sprechen, übersehen wir allerdings, dass sich die Verhaltenstherapie in den letzten Jahrzehnten wesentlich weiterentwickelt hat. Insider sprechen gerne von den „drei Wellen“ der verhaltenstherapeutischen Paradigmenbildung. Klassische Verhaltenstherapie (erste Welle) beruht auf den Ergebnissen der behavioristischen Verhaltensforschung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Dabei wurden die Mechanismen der klassischen Konditionierung (Reiz-Reaktions-Verknüpfung) und des operanten Konditionierens (Belohnen, Bestrafen) auf therapeutische Aufgaben übertragen. Stufenweise Desensibilisierungs- und Konfrontationstherapien sind direkte Anwendungen der behavioristischen Lerntheorie im therapeutischen Bereich (vor alle Angst- und Panikstörungen, Substanzmissbrauch).

 

Die Theorie des Modelllernens (Nachahmungslernen) führt bereits über den klassischen Behaviorismus hinaus und bezieht kognitive Verhaltensweisen mit ein. Lernen durch Beobachtung und Nachahmung setzt bereits einen aktiven und vorstellungsmäßigen Prozess voraus.

 

Die sogenannte „Kognitive Wende“ (zweite Welle) der Verhaltenstherapie ist vor allem mit drei Namen verknüpft:

  • George Kelly (1905-1966) entwickelte die Theorie der persönlichen Konstrukte, befasste sich mit den Aspekten des individuellen Selbstkonzepts von Menschen und beschrieb es als therapeutisches Ziel, dysfunktionale, irrationale Denkmuster bewusst werden zu lassen und sie durch realistischere zu ersetzen
  • Albert Ellis (1913-2007) begründete die Rational-Emotive Verhaltenstherapie (REVT) auf der Basis der Erkenntnis, dass irrationale Bewertungsmuster zu emotionalen Belastungen führen; bahnbrechend ist seine Formulierung der ABC-Theorie, die zwischen dem „activating event” (A), den interpretierenden und bewertenden „beliefs” (B) und den “emotional and behavioral consequences” (C) differenziert
  • Aaron T. Beck (*1921) entwickelte das kognitive Modell der Depression, indem er die Bereiche des depressiven Denkens analysierte und Denkschemata und depressogene Grundannahmen herausarbeitete.

 

Mit der „zweiten Welle“ wurden neue Optionen der kognitiven Umstrukturierung in die therapeutische Arbeit eingeführt, die wesentlich zur Ausbreitung des verhaltenstherapeutischen Ansatzes beigetragen haben.

 

Die „dritte Welle“ der Verhaltenstherapie könnte man mit „Integration und Differenzierung“ überschreiben. Sie ist weniger spektakulär als die erste, erweitert aber durch die methodische Ausdifferenzierung das therapeutische Anwendungsspektrum ganz wesentlich. Drei Stichworte seien hier genannt – wobei ich auf das dritte ausführlicher eingehen werde:

  • Die Schematherapie bezieht psychodynamische Erklärungsmuster in die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mit ein; „maladaptive“ Schemata entstehen durch schädliche Kindheitserlebnisse, die auf der Verletzung menschlicher Grundbedürfnisse basieren.
  • Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie vermutete den Ursprung psychischer Probleme in der fehlenden Trennung zwischen der Sprache bzw. dem Denken einerseits und der Realität andererseits („kognitive Fusion“); der Patient erlernt Techniken, die ihn befähigen, seine eigenen Gedanken gleichmütig zu betrachten und zu akzeptieren, ohne zwangsläufig sein eigenes Verhalten an ihnen auszurichten.
  • Die Integrative Kognitive Verhaltenstherapie (IKVT) führt eine Differenzierung und Erweiterung der ABC-Analyse von Albert Ellis ein, die die therapeutische Anwendbarkeit der Methode verbessert und das Instrument so ausbaut, dass auch die Klienten selbstständig damit arbeiten können. Außerdem basiert die IKVT auf einer problemorientierten Psychodiagnostik und überwindet damit eine zu dominante Symptomorientierung.

 

Das „Integrativ“ in IKVT ist nicht in erster Linie als Hineinnehmen und Integrieren weiterer Methoden in die Verhaltenstherapie zu verstehen, sondern dient eher marketingtechnisch zur Unterscheidung der KVT nach Ellis. Ebenso wie viele andere Ausprägungen der KVT der dritten Welle ist aber auch die IKVT anschlussfähig an weitere methodische Ansätze wie z.B. der Hypnotherapie.

 

  • Buchtipp: H.H. Stavemann, Integrative KVT: Die Therapie emotionaler Turbulenzen

Psychotherapie - Teil 3: Probleme statt Symptome behandeln

Die Integrative Kognitive Verhaltenstherapie (IKVT) ist von Harlich H. Stavemann entwickelt worden, der die Methode am „Institut für Verhaltenstherapie IVT“ in Hamburg als Lehrtherapeut auch unterrichtet Therapeuten nach IKVT zertifiziert. Der Ansatz basiert auf vier originären Pfeilern:

 

  • Der Einbeziehung einer philosophischen Grundlage und der Behandlung auch metaphysischer Fragen im therapeutischen Kontext
  • Einer trennscharfen Taxonomie von Emotionen und deren Unterscheidung von physiologischen Begleitsymptomen, Kognitionen und Körpergefühlen
  • Der Unterscheidung von drei grundlegenden psychologischen Problemfeldern in Ergänzung zur ICD 10-Systematik
  • Der Modifizierung und Erweiterung der ABC-Systematik.

 

Stavemann sagte einmal in einem Interview (2013): „Wer Epiktets Lehre in unsere heutige Sprache umgesetzt und verinnerlicht hat, braucht eigentlich kein weiteres KVT-Buch mehr“. Epiktet als später Vertreter der griechischen Philosophen-Schule der Stoa, aber die Sokratiker und Stoiker insgesamt hatten nach Stavemanns Auffassung bereits ein gültiges Konzept für die therapeutische Haltung und ein „Erklärungsmodell für emotionales Leid und dessen eigenverantwortlich initiierte Veränderbarkeit“, das exakt auf den Ansatz der Kognitiven Verhaltenstherapie passt. Dies betrifft u.a.

  • unsere Eigenverantwortung für emotionales Erleben: Nicht die äußeren Dinge sind verantwortlich für meine Gefühle, sondern meine Interpretationen dieser Dinge
  • der Primat des tatsächlichen Verhaltens, d.h. Einsichten allein verändern nicht unser Leben, es komm auf reales und eingeübtes Handeln an
  • die Unterscheidung von innerer und äußerer Freiheit; eine Wurzel unseres psychischen Leidens ist es, nicht zu unterscheiden, was in unserer Macht liegt und was nicht.

 

Der Bezug zum philosophischen Denken wird in der IKVT einerseits benötigt, wenn es um die Behandlung existentieller Probleme geht, andererseits unterstützt es methodisch die Disputtechniken und den „Sokratischen Dialog“ im Rahmen der verhaltenstherapeutischen Klärungsgespräche.

 

Die IKVT hat nicht nur ein dezidiertes Verständnis des Entstehens von Emotionen, die nicht als eigenständige Realitäten betrachtet werden, sondern als Konstrukte, die aus dem Zusammenwirken von einem Arousalzustand (neurophysiologischer Erregung) und einer internen Attribution (Bedeutungszuweisung) entstehen. Sie legt auch großen Wert darauf, dass mit dem Begriff „Gefühl“ trennscharf umgegangen wird. Nicht alles, was wir im Alltagssprachgebrauch als Gefühl bezeichnen, ist im Konzept der IKVT ein Gefühl. Das gilt beispielsweise für „Schuldgefühl“ (= eine kognitive Bewertung) oder „Schwindelgefühl“ (= physiologisches Begleitsymptom). Die IKVT unterscheidet diese acht „echten“ Gefühlszustände: Trauer, Angst, Ärger, Abneigung, Niedergeschlagenheit, Zuneigung, Freude, Scham. Diese Gefühle an sich sind unproblematisch, entscheidend ist ihre Ausprägung im Zusammenhang mit dem jeweiligen psychischen Stress des Patienten.

 

Ein wesentlicher Beitrag zur Diagnostik, den die IKVT leistet, ist die Abkehr von der Symptomorientierung hin zu einer Problemorientierten Kognitiven Psychodiagnostik (PKP). Die IKVT behandelt nicht eine Depression, Bulimie oder Anpassungsstörung, sondern die zugrundeliegenden Probleme, die aus folgenden „Töpfen“ kommen können:

  • Selbstwertprobleme (SWP)
  • Frustrationsintoleranzprobleme (FIP)
  • Existenzielle Probleme (EXP).

 

Selbstwertprobleme können

  • leistungsorientiert
  • beliebtheitsorientiert

oder auch eine Kombination aus beidem sein. Häufig dazu „passende“ ICD 10-Diagnosen sind:

  • F40.0 Agoraphobie | F40.1 Soziophobie | F40.2 Spezifische Phobien | F41.0 Panikstörung | F41.1 Generalisierte Angststörung.

 

Frustrationsintoleranzprobleme lassen sich unterscheiden in

  • FIP A = Ärgerstörung
  • FIP B = Prokrastination.

Häufig dazu „passende“ ICD 10-Diagnosen sind:

  • F32/F33 Depressive Störungsbilder | F43.2 Anpassungsstörung | F10-19/F50/F63 Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen.

 

Existenzielle Probleme finden sich häufig bei

  • F32/F33 Depressive Störungsbilder | F43.2 Anpassungsstörung | F10-19/F50/F63 Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen.

 

Aus der jahrzehntelangen Psychotherapie-Praxis von Harlich H. Stavemann lässt sich eine Statistik der Verteilung dieser problemorientierten Diagnosen gewinnen, die zu 80 % Selbstwertprobleme, 70 % Frustrationsintoleranzprobleme und zu 15 % Existenzielle Probleme ausweist. Dass die Summe mehr als 100 % umfasst, liegt daran, dass Patienten mehrfache Problemkonstellationen zeigen, sei es als parallele, zeitlich hintereinander liegende oder hierarchische („Problem mit dem Problem“) Probleme.

 

Für den therapeutischen Prozess am wichtigsten dürfte die von Stavemann vorgenommene Ausdifferenzierung der ABC-Analyse von Albert Ellis sein. Lesen Sie mehr darüber in der nächsten Folge.

 

  • Buchtipp: H.H. Stavemann, Der Blick hinter das Symptom: Problemorientierte Kognitive Psychodiagnostik (PKP) und abgeleitete Behandlungspläne

Psychotherapie - Teil 4: Auf dem Weg zum "B neu"

Wir sind unseren Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert, weil wir sie ja selber „machen“, d.h. über ihre Stärke und die Bedeutung, die sie für uns bekommen, selbst entscheiden. Das ist die Arbeitshypothese der Kognitiven Verhaltenstherapie. Wir sind also „selbst schuld“ an unserem Leid – und das ist die positive Botschaft. Denn dann können wir auch selbst etwas dagegen unternehmen.

 

Im Zentrum der Therapie steht für den Patienten deshalb die – nicht theoretische, sondern an den vielen praktischen Manifestationen seiner psychischen Probleme festzumachende – Einsicht in das Funktionieren dieses „Gefühle-Produzierens“ und der dahinterstehenden erlernten und verfestigten Konzepte. Das ist viel Arbeit, auch wenn der Therapeut oder die Therapeutin Hilfestellung geben können. Die Arbeit aber macht immer der Patient.

 

Damit der Patient lernt, selbst an einem Problem zu arbeiten und er nicht auf die genialen Einfälle und die Intuition seines Therapeuten angewiesen ist, hat Harlich H. Stavemann, der Begründer der Integrativen Kognitiven Verhaltenstherapie (IKVT), die von Albert Ellis grundsätzlich eingeführte ABC-Analyse differenziert und erweitert. Die Differenzierung sieht folgendermaßen aus:

 

Activating Experience | A |
Schnappschuss der Ausgangssituation
Was könnte auch ein Außenstehender an der für mich problematischen Situation wahrnehmen?
Beliefs | B |
Alle bewussten und unbewussten Kognitionen
B 1 Was sehe nur ich mit meinem Vorwissen, meinen Normen und Konzepten?
B 2 Welche persönlichen Konsequenzen ziehe ich daraus? 
B 3 Wie finde ich das?   
Consequences | C |
Die gefühls- und verhaltensmäßigen Konsequenzen
C 1 Welches Gefühl habe ich dabei? Welche körperlichen Begleit-symptome?
C 2 Wie verhalte ich mich daraufhin?   

 

Hat der Patient anhand mehrerer solcher ABCs den Zusammenhang von Gefühlen, Bewertungen und Verhalten verstanden, kann er sich mithilfe des Therapeuten auf ein neues Ziel fokussieren und dazu seine Bewertungsmuster, also sein „B“, neu definieren. Dieses "B neu" entsteht im Zuge des Disputs der alten Bewertungsmuster. Dabei wendet der Therapeut verschiedene Disputtechniken an:

  • Empirisch z.B. „Wie wahrscheinlich ist es…?“
  • Logisch z.B. „Was hat das mit Ihrem Wert zu tun?“
  • Normativ z.B. „Möchten Sie das weiterhin glauben?“
  • Funktional z.B. „Hilft Ihnen das, Ihr Ziel zu erreichen?“
  • Hedonistisch z.B. „Sie haben also gestern erfolgreich Ihre Angst mit Alkohol bekämpft. Wie beurteilen Sie heute diesen Erfolg?“

 

Hier kommt ggf. dann auch die Methode des sokratischen Dialogs zu Anwendung, der auf einer nicht-wissenden, naiv fragenden, zugewandten, um Verständnis bemühten Therapeutenhaltung beruht und dem Klienten hilft, selbst auf die Antworten und Lösungen zu kommen, die ihm weiterhelfen.

 

Jetzt ist die Hälfte des Weges geschafft. Nun muss aus Einsichten auch Verhalten werden, das dem neuen Konzept entspricht. Durch gewonnenen kognitiven Erkenntnisse allein wird sich das Verhalten nicht verändern. Um zu verhindern, dass die früheren, gut gelernten und mit Symptomgewinnen gekoppelten Muster sich nicht wiederholen, braucht es eine längere Übungsphase, in der das "B neu" neurophysiologisch gebahnt und gesichert wird. Zu diesem Zweck erstellt der Klient zusammen mit dem Therapeuten „Übungsleitern“ für Trainingssituationen mit ansteigendem Schwierigkeitsgrad. Die Stufen der Übungsleiter werden dem Klienten auf keinen Fall vom Therapeuten verordnet, sondern es ist immer der Klient, der für sich das Übungsprogramm zusammenstellt. Um es abzusichern, werden dann für jede Stufe genaue „Drehbücher“ für die Durchführung geschrieben und auf Realisierbarkeit abgeklopft. Erst danach übt der Klient die Trainingsschritte zunächst „in sensu“, als Imaginationsübung, bevor er sich an die reale Übung („in vivo“) wagt. Der Klient erlernt in diesem Zusammenhang auch eine „Gedankenstopp“-Technik, um nicht wieder alte Bewertungsmuster zu aktivieren. Erst wenn eine Stufe gut bewältigt ist, wird die nächste in Angriff genommen. Selbst- und Fremdschädigung wird immer ausgeschlossen.

 

Nicht selten ist in verhaltenstherapeutischen Settings für die Übungsphase zu wenig Zeit, um den Prozess im vorgesehenen zeitlichen Rahmen abzuschließen. Allerdings sollte der Therapieverlauf den Patienten in die Lage versetzen, ggf. auch die letzten Stufen der Übungsleiter weitgehend selbstständig zu erklimmen. Die Methodik der IKVT zumindest hat den Anspruch, dem Patienten eine aktive und selbstverantwortliche Rolle zuzuweisen. Für die IKVT gilt eine dezidierte Methodentransparenz:

  • Der Therapeut hat kein Geheimwissen und keinen geheimen Plan, sondern legt sein Vorgehen jederzeit offen. 
  • Der Klient lernt das System der IKVT methodisch-inhaltlich kennen und bei sich selbst anwenden; eigene „Patientenbücher“ enthalten den gesamten therapeutisch-methodischen Ansatz in einer für jedermann rezipierbaren Form.
  • Der Therapeut ist kein Heiler, der dem Klienten sein Leid „wegmachen“ kann; von Anfang an werden die Veränderungsmotivation und die Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit abgeprüft und eingefordert.
  • Der Klient selbst macht die Arbeit – auch außerhalb der Therapiestunden; mit zahlreichen Arbeitsblättern und Unterlagen wird der therapeutische Arbeitsprozess beim Patienten unterstützt und überprüfbar gemacht.

 

Nicht zuletzt diese Methodentransparenz ist es, was den Ansatz der IKVT auch außerhalb des explizit therapeutischen Anwendungsbereichs für Berater und Coaches interessant macht. Tatsächlich läuft die Weiterbildung in IKVT am IVT Hamburg für Ärzte, Psychologen, Heilpraktiker und Coaches weitgehend gemeinsam und parallel. Erst in der Zertifizierungsphase macht es einen Unterschied, für welchen Anwendungsbereich jemand die Fortbildung absolviert. 

 

  • Buchtipp: H.H. Stavemann, KVT-Praxis: Strategien und Leitfäden für die Integrative KVT